Seit drei Wochen beschränkt sich der Alltag auf unser Daheim und wir mittendrin suchen nach Halt im grossen Wandel.
Nie war die körperliche Distanz zu Freunden und Fremden gleich gross.
Nie waren wir in kleinsten Einheiten so eng aufeinander.
Nie hat man Beziehungen via Social Media so intensiv gepflegt oder gar vertieft.
Nie hat man so wenig Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel gesehen.
Nie war Einkaufen eine potentielle Gefahr.
Nie wurde die Wirtschaft global so rigoros runtergefahren.
Nie hat die Vertrauensfrage so tief in den Alltag gespielt.
Nie haben alle Eltern ihre Kinder daheim unterrichtet.
Nie war man als Paar oder Mitbewohner*innen so gnadenlos konfrontiert.
Nie waren Ängste so konkret und doch diffus.
Nie so ausgetrocknete Hände ohne viel zu tun.
Nie beschränkte sich die Mobilität auf den Weg zwischen Zimmer, Balkon und Küche.
Nie durften Angehörige nicht intim Abschied nehmen von jemand Verstorbenem.
Nie wurden die Vergessenen noch vergessener.
Nie war es so schwierig Inklusion wie selbstverständlich zu leben.
Nie hat sich die Wissenschaft so öffentlich in den Dienst der Politik und Gesellschaft gestellt.
Nie waren wir gemeinsam so einsam.
Nie bekam der alte Pulli im Kleiderschrank eine so grosse Aufwertung.
Nie gab es so viel Bewegung im Denken und Fühlen.
Nie war so viel möglich, was niemals möglich schien.
Suchend, verwirrt, verängstigt aber auch hoffnungsvoll geben wir uns dem Wandel hin. Die Empfindungslage wechselt fliessend und oft, die Corona-Krise reisst uns alle aus der Mitte. Aus der eigenen und aus der gesellschaftlichen. Einander ausweichen, ist draussen oberstes Gebot. Drinnen gibt es kein Entkommen. Zwei Extreme, an die man sich erst gewöhnen muss, die aber auch etwas Verbindendes haben. Zum ersten Mal erleben wir alle, was die Einschränkung von Konsum, Arbeit, Berieselung und Mobilität bedeutet. Zum ersten Mal entsteht durch eine globale Bedrohung ein Gefühl unserer Vergänglichkeit als etwas Universelles. Zudem lässt uns das Wissen um einen potentiell näherkommenden und tiefgreifenden Wandel als ganze Gesellschaft näher zusammenrücken.
Wir haben alle eine Menschheitsaufgabe zu bewältigen. Der Abschied von geliebten Menschen – auf Zeit oder für immer, aber auch der Abschied von alten Gewohnheiten und einer Zeit vor Corona. Können wir uns an weniger Unterhaltung, weniger Produkte, weniger Newsletter, weniger Reisen und weniger Pop-ups gewöhnen? Wir sind jetzt gezwungen, all die Systeme, in denen wir uns seit eh und je ganz selbstverständlich bewegen, zu überdenken – und uns zu fragen, wie unsere Welt ohne sie aussehen würde. Wollten wir das nicht schon längst tun?
Auch unser Heitere Fahne Alltag muss sich seit Corona von alten Gewohnheiten lösen. Wie alle anderen Kulturhäuser haben wir unseren Betrieb geschlossen und bewegen uns seither nur noch in kleinen Gruppen. Dieser Schritt bedeutet für uns ein Schritt ins Unbekannte, haben wir uns doch in den letzten sechs Jahren fast ununterbrochen als Kollektiv bewegt und mehrmals wöchentlich Hunderte von Menschen bei uns verwöhnt, bewegt und in Berührung gebracht. Das Zusammenbringen von Menschen durch Essen und Kultur war und ist unser Herzensanliegen – doch vorerst muss unser Herz einen neuen Rhythmus finden und viele Fragen pulsieren durch unseren Alltag.
Wie bringen wir unser inklusives Betriebsteam über die Runden, ohne dass dabei jemand verloren geht? Was können wir all unseren Besucher*innen an Kultur nach Hause bringen? Was passiert mit all den Künstler*innen, die in nächster Zeit unser Haus bespielen würden? Wann können wir überhaupt wieder veranstalten und in welcher Form? Wie halten wir unseren Kulturbetrieb finanziell über Wasser? Wie verändert Corona unser Bewusstsein als inklusives Kulturhaus? Wie können wir fantasievoll und lebensbejahend in die sich verändernde Gesellschaft wirken?
Wir setzen alles daran, die Heitere Fahne auch durch diese still bewegten und ungewohnten Zeiten zu bringen, uns mit positiven Kleinigkeiten immer wieder in euren Alltag zu mischen und von daheim aus für euch dran zu bleiben.
Der frisch gedruckte und aktuellste Jahresbericht soll ein Zeichen dafür sein, dass die Heitere Fahne auch nach den Corona Zeiten ein wichtiger Ort bleiben will – für die Aufarbeitung des Erlebten, für die Auseinandersetzung mit Veränderungen und für das Erproben eines gesellschaftlichen Danach.
Bis dahin bleiben wir weiterhin daheim und fordern alle dazu auf, dasselbe zu tun.
Damit die Inklusion und das Zusammensein verschiedenster Menschen bald wieder möglich werden.
Alles Gute euch allen und herzliche Grüsse,
Euer Kollektiv Frei_Raum und die Heitere Fahne.
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